Maarten ´t Hart, Unterm Scheffel, Roman
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Deutsche Ausgabe München 2011
Gelesen von Luisa
Wer den Pianisten und Komponisten Alexander Goudveyl besuchen möchte, muss über eine riesige Pappel klettern. Sie ist bei einem Sturm umgekippt und in der Einfahrt des Hauses liegengeblieben. Blockaden sind ohnehin das Thema im Hause Goudveyls: Alexander ist erst Mitte Vierzig, aber fühlt sich alt. Er ist vermögend durch seine Tantiemen, aber hält sich kompositorisch für einen Versager. Seine Frau Hannah, Sängerin mit einer legendären Altstimme, quält sich und ihn mit ihrer Karriere, der sie psychisch nicht gewachsen ist. Alexanders Duopartnerin und oft auch verständnisvolle Zuhörerin Hester kommt finanziell auf keinen grünen Zweig. An künstlerischer Begabung und Fleiß mangelt es bei keinem der dreien. Aber ihnen fehlt die Gabe, an sich selbst und ihr Können zu glauben. Gehemmt, unfroh und gebremst leben sie dahin: ihr Licht unter dem Scheffel.
Doch dann bricht Leben ein: Alexander Goudveyl stürzt sich in eine Affäre mit einer scheinbaren jungen Bewunderin seines Klavierspiels. Für kurze Zeit erscheint eine neue Zukunft mit dieser bildschönen und weltgewandten Sylvia am Horizont. Von dieser Liebe beflügelt fühlt er sich auch als Komponist nahe am Ziel, endlich sein Meisterwerk schreiben zu können, das schon so lange in ihm reift. Die Liebe macht ihn blind vor Sylvias schwierigem Charakter: Als Tierärztin mag sie weder Tiere noch deren Besitzer. Sie ist launisch, nicht besonders feinfühlig, noch nicht mal leidenschaftlich, und sie ist unbeständig: Mal überfällt sie Alexander unangekündigt, mal schickt sie ihn weg trotz Verabredung. Sie hält ihn in einem ewigen Hin und Her gefangen. Kinder, Familienleben, feste Bindung – für sie ein Horror. Und klassische Musik – ein Greuel! Sie lehnt alles ab, was ihm wichtig ist. Kompromisse kommen in ihrem Leben nicht vor. Längst ist Goudveyl völlig abhängig und findet nicht mehr heraus. Sylvia bestimmt sein Leben, sein Denken und Fühlen. Er wartet, leidet, sucht und hofft – und merkt nicht, wie er sich selbst dabei immer mehr verliert. Vergeblich warnen ihn seine Freunde. Vergeblich sucht auch er selbst den Ausstieg aus dieser fatalen Beziehung. Er ist ihr verfallen – bis zum bitteren Ende.
Wer keine klassische Musik mag, sei – wie immer bei Maarten ´t Hart – vor diesem Buch gewarnt. Der ganze Roman ist durchdrungen von musikalischen Anspielungen. Und auch wenn ich nicht alle Stücke kenne, über die Goudveyl nachdenkt: In mir klang und sang es von der ersten bis zur letzten Seite. Beethoven, Brahms, Schubert, Schumann, Bach, Mozart….immer wieder geht es Alexander um die Frage, wer der Größte ist und warum. Ich fühlte mich zweifach vergnügt, weil meine Lust am Lesen und meine Lust an der Musik beide reichlich zum Klingen kamen. Überhaupt die Klänge: In Alexanders musikalischem Kopf und Herzen wird jeder normale Klang der Welt zu einer musikalischen Phrase, angefangen vom rhythmischen Laufen der Jogger im Park bis zum Regen auf dem Dach. Die Auseinandersetzung mit seiner künstlerischen Begabung, mit dem strengen Kritiker in sich selbst und der verzweifelten Suche nach sich als Mann und Musiker ist mir beim Lesen unter die Haut gegangen. Sylvias narzisstische Abwehrmanöver fand ich bereits als Leserin hoch anstrengend. Ich habe mitgefiebert, ob der Protagonist es schafft, sich von den beiden maßlosen Frauen zu trennen: von seiner ewig kindlich-fordernden Frau Hannah und von der sich ewig verweigernden Sylvia. So sehr wünschte ich ihm, dass er wirklich zu sich findet und damit auch zu der musikalischen Sprache, die in ihm reifte und ans Licht will. Spannend ist auch, wie der (sich selbst als eingefleischten Atheisten bezeichnende) Autor Bibelzitate, religiöse Anspielungen und Hoffnungen einstreut…“Unterm Scheffel“ ist ein aufregendes Buch über die Suche nach einer bereichernden Liebe, dem Umgang mit großen Talenten und der Hoffnung auf gelingendes Leben.